Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Signetverleihung zum „RealitätsCheck Inklusion“ an 4 Berliner Nachbarschaftshäuser!
Hier nun das Update zur Frage, wieviele Rollstuhlnutzer und -nutzerinnen sich in einem Raum des Berliner Abgeordnetenhauses, der für 110 Tagungsteilnehmer ausgerichtet ist, aufhalten dürfen (siehe Artikel „Wenn der RealitätsCheck an der Realität scheitert“) :
Wir haben seit dieser Woche die Ausnahmegenehmigung, dass sich am 25. März 2015 bis zu 9 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer – anstelle der sonst genehmigten 4 – im Raum 311 des Abgeordnetenhauses aufhalten dürfen.
Allerdings ist diese Ausnahmegenehmigung an eine Auflage geknüpft:
„Für Ihre Veranstaltung wird ausnahmsweise die Teilnahme von bis zu 9 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern gestattet, wenn Sie bis zum Tag der Veranstaltung eine schriftliche Erklärung von jeweils 2 volljährigen Teilnehmerinnen oder Teilnehmern vorlegen (also 18 Personen), mit der die Verpflichtung übernommen wird, sich im Gefahrenfall um die Betroffenen zu kümmern und eine Rettung durchzuführen.“
Andernfalls würde uns die Hausverwaltung des Abgeordnetenhauses einen externen Dienstleister benennen, der diese 18 Menschen für unsere Signetübergabe engagiert.
Ich bin am Ende dieser Woche sprach- und ratlos.
Und der Vorgang erinnert an eine geplante Veranstaltung im Bundestag, die 2011 stattfinden sollte, um gemeinsam mit behinderten Menschen über den Stand der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu sprechen (siehe Artikel in der Süddeutschen Zeitung „Rollstuhlfahrer müssen draußen bleiben“). Dort war man dann erstaunt darüber, dass sich unter den 300 Eingeladenen auch tatsächlich 100 Menschen im Rollstuhl befanden – und sagte deshalb die Veranstaltung aus Brandschutz- und Sicherheitsgründen ab.
Barbara Vieweg, Sprecherin des Deutschen Behindertenrates und stellvertretende Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. hat 2011 dazu kommentiert: „Die Absage ist ein Zeichen von Hilflosigkeit im Umgang mit Behinderten und Barrierefreiheit“.
Ich sehe das ähnlich. Wer arbeitet in der Bauaufsicht des Landes Berlin, die solche Verordnungen erlässt? Ich vermute mal, kein Mensch im Rollstuhl und auch niemand, der den Alltag behinderter Menschen kennt.
Denn: jeder Mensch, der auf Barrierefreiheit angewiesen ist, und an einer Veranstaltung teilnehmen möchte, plant selbstbestimmt und ganz ohne Bauaufsicht und Betriebsverordnung, wie er oder sie den Weg zum Veranstaltungsort bewältigt – mit Fahrdienst, eigenem Pkw, Taxi, VBB-Begleitservice, persönlicher Assistenz, Mobilitätsdienst usw.
Ertastbare Leitstreifen, Bordsteinabsenkungen, Einstiegshilfen im Öffentlichen Personennahverkehr, leicht lesbare Fahrpläne, Entfernungen zwischen Haltestelle und Gebäudeeingang, Vorhandensein von Fahrstuhl und rollstuhlgerechter Toilette – alle diese Informationen organisieren sich behinderte Menschen je nach Behinderung vor jeder Unternehmung. Selbstbestimmt.
Und wenn Menschen das alles organisieren können, dann können sie doch auch ein Risiko abschätzen – z. B. für einen möglichen Brandfall.
Menschen mit Behinderung als selbstbestimmte Menschen wahrzunehmen, das ist etwas, was mir in der Diskussion um den Veranstaltungsort unserer Signetübergabe fehlte.
Und dann waren da auch immer wieder Fragen und Regelungen, die die Unsicherheit und auch Unkenntnis in barrierefreier Veranstaltungsplanung zeigten:
„Für einen Rollstuhl müssen wir 4 normale Stühle rausnehmen.“ 2 würde ich ja noch verstehen, aber 4?
„Wer nimmt dann die normalen Stühle weg?“ Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie gefragt, wer denn für mich mal einen Stuhl zur Seite schieben könnte.
Und dann die geforderte Verpflichtungserklärung, „sich im Gefahrenfall um die Betroffenen zu kümmern und eine Rettung durchzuführen“. Jemanden um Hilfe bitten, erwarten, dass Hilfe geleistet wird (und das kann ja auch einfach sein, die Feuerwehr zu rufen, um sich nicht selbst zu gefährden) – ja. Aber die Verpflichtung, jemanden zu retten – die ist rechtlich und menschlich nicht zu erfüllen.
Ich wünsche mir, dass dieser Vorgang zum Anlass genommen wird, Betriebsverordnungen und Vorschriften der Bauaufsicht dahingehend zu prüfen, ob sie mit den Grundsätzen aus Artikel 3 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vereinbar sind:
- die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Selbstbestimmung;
- die Nichtdiskriminierung;
- die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;
- die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil
- der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;
- die Chancengleichheit;
- die Zugänglichkeit;
- die Gleichberechtigung von Mann und Frau;
- die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.